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Es schneit ununterbrochen auf die Bühne, und die Gefühle liegen im Frost: Russland in der Silvesternacht — eine Winterhölle. Kurze Zeit träumen Fräulein Julie und ihr Chauffeur noch vom Ausland, “da, wo es warm ist”. Aber ihre Flucht führt sie nur bis zur Tür. Der metallenen Küche des Hauses, einer Mischung aus Großkantine und pathologischem Institut, entkommen sie nicht. Auf der silberglänzenden Arbeitsfläche hat die Köchin zu Beginn des Abends ein Huhn ausgenommen. Bald legten die Hauptpersonen hier ihre Köpfe nieder. Eine Kamera filmte sie, und ihre vergrößerten Bilder erschienen auf einer Leinwand im Hintergrund der Bühne. Julie leckte dem Chauffeur kokett ein Staubkorn aus dem Auge — Erotik wie aus dem Anatomiealbum. Später tobte die Tanzgesellschaft aus dem Nachbarsaal in die Küche und nahm den Kühlschrank im Sturm. Er blieb offen stehen, und sein gelbliches Lämpchen machte ihn zum gemütlichsten aller erreichbaren Orte. Als das Anmachspiel zwischen Julie und dem Chauffeur in den Kampf der Geschlechter und Klassen mündete, landete Julie eine Tür tiefer — im Gefrierschrank.

Schon August Strindbergs Tragödie Fräulein Julie bot kaum Hoffnung und Geborgenheit. Der Dramaturg Michail Durnenkow hat sie für das Moskauer Theater der Nationen gefriergetrocknet und ins heutige Russland übersetzt. Für die Proben flog als deutscher Gastregisseur Thomas Ostermeier vor gut sechs Wochen in ein scheinbar stabiles, fast langweiliges Russland ein. Doch seit der Parlamentswahl Anfang Dezember, die viele für manipuliert halten, kommt unerwartet Bewegung und Protest in die Gesellschaft. Ostermeier, der in Moskau den „aufklärerischen Diskurs” des Theaters suchte, kann das nur freuen. Mit seiner Inszenierung des Fräulein Julie in einem sozial und politisch erstarrten Russland darf er sich auf der Höhe der Zeit fühlen. Den Theatermachern kommt eine neue, politische Bedeutung zu.

Schroff sind die Konflikte zwischen Julie und dem Chauffeur, und tief sitzt ihre Frustration. Ihr Versuch, sich vom Ballast des alten Lebens zu befreien, endet allerdings in Autoaggression und Blut. Das Aristokratenkind Julie aus Strindbergs Zeit ist in Ostermeiers Inszenierung eine Oligarchentochter mit hohlem Selbstbewusstsein, das zerbricht, sobald sie den Rahmen ihres Wohllebens verlässt und selbstständig handeln muss. „Ich kenne persönlich solch ein armes reiches Mädchen”, erzählt Tschulpan Chamatowa, die Schauspielerin der Julie. “Es besitzt keine Ziele und keine Werte und hat nur die absolute Abwesenheit von Freiheit, obwohl man das Gegenteil denken sollte.”

Die Lebensplanung überfordert Julie, die kaum ihre Langeweile zu bändigen vermag. Ein Schoßhündchen, das sie später der Utopie eines besseren Lebens anderswo opfert, und der Chauffeur sollen ihr dabei helfen. Es geht nicht um Liebe und nicht mal um schnellen Sex. Es geht nur um die Macht. „Beim nächsten Mal”, warnt Julie ihn am Anfang, „könnten Sie entlassen werden.”

Ein Chauffeur gehört zu den Statussymbolen im heutigen Russland. Beliebig ausbeutbar sitzt oder schläft er Tag und Nacht im Auto, im Winter bei laufendem Motor, und wartet auf seinen Herrn. Julies Fahrer träumt seit seiner Kindheit davon, seine arme Existenz mit dem ewig sauren Geschmack von Kohlsuppe im Mund hinter sich zu lassen. In der Silvesternacht sieht er erstmals das Leben nicht nur im Rückspiegel. Er nimmt die Verführungsgesten der Oligarchentochter ernst und zieht sie in sein Zimmer, träumt dann die Persiflagen großer Fluchtträume, die schon gescheitert sind, wenn er sie ausspricht, und endet am Morgen wieder als geduckter Chauffeur des Hausherrn. “Wer zum Kriechen geboren wurde“, sagt er, „kann nicht fliegen.” Seine Energie führt nicht zum Aufstieg. Sie erschöpft sich in der Erniedrigung seiner Chefin bis zu deren Selbstmord. Am Schluss erschießt sich Julie mit einer Pistole, die verlockend golden blinkt. Zuvor bittet sie den Chauffeur um die Worte, an die sie innig glauben möchte und die wie ein Slogan aus der Neusprech-Abteilung des Kremls klingen: “Alles wird gut!”

Doch die Zahl der Russen wächst, die den beruhigenden Aussagen der Machthaber nicht mehr glauben. Die künstlerische Elite ist gespalten in ihrer Reaktion auf die Proteste. Auf der Premierenfeier von Fräulein Julie am Mittwoch vergangener Woche verabredeten sich manche zur Demonstration drei Tage später. Dramaturgen, Musiker und Komponisten riefen zum Protest auf. Ostermeier gab den Schauspielschülern, die in seiner Inszenierung als Partygäste die Küche bevölkern, am Tag der ersten Massendemonstration probenfrei. “Unter der Bedingung”, wie er sagt, „dass sie mit auf die Straße gehen.” Zwei Drittel, schätzt er, hätten wirklich demonstriert.

Andere Künstler geben sich passiv und bleiben zu Hause. Sie argumentieren, dass sich in Russland sowieso nichts ändere und dass ihr Platz nur im Theater oder Orchestergraben sei. Im Internet kursiert ein Aufruf bekannter Persönlichkeiten gegen die Demonstrationen, die nur zu Chaos führen würden. Manche Künstler drängeln sich in russischer Tradition um die Mächtigen und hoffen auf Gelder und staatliche Engagements. „Die Macht in Russland hat die schöpferischen Menschen immer als Gefahr gesehen, weil sie innerlich frei sind”, schreibt die Kulturkritikerin Anna Kusnezowa. „Unsere heutige Macht braucht die Künstler nur als zivilisatorische Fassade, um den Westen nicht mit ihrer wahren Physiognomie zu erschrecken.” Die Grenzen zwischen Komplizenschaft, Abhängigkeit und Anbiederung der Künstler sind dabei fließend. Die Kunst besteht für viele darin, sich an die Macht anzulehnen und doch nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wenn sie sich schüttelt oder wenn sie schwankt.

Jewgenij Mironow, der den Fahrer der Julie spielt, ist der künstlerische Leiter des Theaters der Nationen. Er kommt zur Theaterprobe im schwarzen Mercedes mit Chauffeur angefahren. “So weit sind wir in Deutschland noch nicht”, scherzt Ostermeier. Das Theater ist Mironows Zukunftsprojekt und hat ihn zum Pakt mit der Macht und Premierminister Wladimir Putin gezwungen. Knapp vier Jahre hat die Renovierung des Theatergebäudes mit Geldern aus dem Kulturhaushalt gedauert. Mironow hatte sich dafür persönlich an Putin gewandt.

Zur Eröffnung des Theaters im September reiste Putin mit dem Kulturminister und dem Moskauer Bürgermeister an. Er spielte auf dem Bühnenklavier die Melodie seines Lieblingsliedes Womit die Heimat beginnt aus dem Kinofilm Schild und Schwert über einen russischen Spion im Deutschen Reich während des Zweiten Weltkriegs. Mironow nannte er bei dessen Kosenamen Schenja. Dann gab es Tee. Das Redeprotokoll liest sich wie das Textbuch zu einem Theaterstück über abhängige Enthusiasten, die drei gönnerhafte Herren treffen und sie um noch mehr Geld bitten. Putin versprach Mironow seine Hilfe, und Moskaus Bürgermeister schenkte dem Theater gleich noch drei Wohnungen für junge Schauspieler. Das Protokoll verzeichnete daraufhin Zwischenrufe aus der Ensemblerunde: “Vielen Dank!”

Vor zwei Wochen führte Putin sein viereinhalbstündiges „Fernsehgespräch mit dem Volk”. Mironow musste in einem Fernsehspot für die Sendung werben und zu Putin ins Studio kommen. “Wir haben dir einen Gefallen getan, jetzt bist du dran”, sagt in solchen Fällen zuvor eine freundliche Stimme aus dem Kreml am Telefon. Mironow saß im Publikum, und für die meisten Zuschauer war damit klar: Er unterstützt den Premierminister. „Es ist sehr schwer, hier zu überleben und dabei das Gewissen nicht zu verlieren”, sagt ein Kollege Mironows. “Wir haben einen Staat, der dich schnell kaputt machen kann.”

Für die erste Aufführung im wieder eröffneten Theater der Nationen wählte Mironow einen deutschen Regisseur mit einem aktualisierten Stück aus. Für viele Moskauer, die dem althergebrachten Theater anhängen, ist das fast ein Schock. “Warum spielt ihr nicht den Strindberg?”, fragen sie. Weitere internationale Produktionen sind geplant. Das Theater hat entgegen der Moskauer Tradition kein festes Ensemble und gibt sich flexibel, weltoffen und kritisch. Zumindest auf seiner Bühne kann Mironow erzählen, worüber er sonst besser schweigt.